Ich. will. das machen. lesen.

Du bist gestorben. Damit könnte diese Geschichte schon wieder enden. Du bist tot und mit dir das Lachen, deine Neugier auf jeden Tag, deine Zuversicht in die Götter, deine Liebe zu uns. Du hast uns das Glück gezeigt und uns gelehrt, dass Leben die Verwirklichung von Träumen ist. Mit deinem Tod bleiben keine Träume mehr, die Welt ist geschrumpft auf dumpfen Schmerz. Leere und Stille breiten sich aus, unterbrochen nur von meinen verzweifelten Rufen nach dir. Und selbst diese verhallen unbeantwortet zwischen den Welten.

Wie bin ich hierhergekommen, in ein Leben, das ich nicht mehr kenne, das nicht meines zu sein scheint, das nichts Vertrautes mehr hat? Etwas zwingt mich, auf die Suche zu gehen nach den Spuren, die hierher geführt haben, mich umzusehen. Denn mein Leben ist nichts mehr als die Erinnerung an dich. Mit jedem Tag, der seit deinem Tod vergangen ist, wird meine Angst größer, dass du verblasst, dein Leben und damit auch meines – denn unsere Lebensfäden waren all die Jahre untrennbar miteinander verwoben – verschwinden in den Nebeln des Vergessens.

Dein Faden ist abgerissen und ich weiß kein Muster, das ich mit meinem weiter knüpfen kann.

In eine Zukunft ohne dich kann ich nicht gehen. Ich weiß nicht mehr, wie Leben geht, meine Füße weigern sich, einen Schritt in diese unbekannte Welt ohne dich zu tun. Selbst wenn ich mich bemühe, kann ich aber auch keinen Weg erkennen, der sich zu gehen lohnen würde. So beschließe ich, zurück zu gehen. Zum Anfang.

Wenn ich deine Geschichte erzähle, verschaffe ich mir vielleicht ein bisschen Zeit. Ich schlage der Realität ein Schnippchen, muss noch nicht so bitter begreifen, dass du nicht mehr da bist. Wenn ich das Leben mit dir aufschreibe – und mit jedem Wort, das seinen Weg auf dieses Blatt findet, hole ich dich in meine Nähe – werden die Bilder von unserem gemeinsamen Leben farbig und du mit ihnen lebendig.
Das ist der erste Grund für dieses Buch. Und dann gibt es noch einen zweiten. Drei Wochen vor deinem Tod, du bist 13 Jahre alt, malst du eine Titelseite für ein Buch. „Ich. Joshua. Mein Leben.“ schreibst du uns am Computer. Auf der Titelseite soll dein Name stehen, die Buchstaben alle bunt, so bunt wie dein Leben. Du siehst mich ernst an. Du willst ein Buch schreiben über dein Leben. Bereits vor einigen Jahren hast du mehrere Seiten für ein derartiges Buch gemalt. Jetzt sagst du mir noch einmal, wie wichtig dir das ist, während das Leben aus dir herausfließt, so schnell, dass wir kaum hinterherkommen mit unseren Gefühlen. Vielleicht denkst du selbst gerade viel über dein Leben nach, wo nur noch das Sterben auf dich wartet. Vielleicht möchtest du, dass etwas bleibt von dir. Josh, du wirst immer bleiben, in unseren Herzen, du hast sie so angefüllt mit deiner Liebe. Doch vielleicht möchtest du auch erzählen von deinem Mut, der Krankheit zu trotzen, von deiner Kraft, die du dagegengestemmt hast, gegen den Tod, der seit der Diagnose im Hintergrund lauerte. Vielleicht willst du auch ein Wort einlegen für all die anderen Kinder in deiner Situation. Du sprachst oft nicht nur von dir, wenn dir etwas wichtig war, du hast „wir“ geschrieben an deinem Computer, wir, die kranken Kinder. Ich nehme das als Auftrag. Ich werde dein Buch schreiben.
(…)

Wir beginnen deine Geschichte so, wie sie geendet hat, mit dir auf meinem Schoß.
Nah aneinander geschmiegt, zwei Menschen ganz still inmitten des Weltenlaufs, verbunden bis zum Seelengrund, die Gedanken ineinander verwoben, gemeinsame Tränen und leises Lachen vermischt, dein Leid und dein Glück wie eine weiche Decke um uns gehüllt. Ich stelle mir also einfach vor, wie du auf meinem Schoß sitzt in unserem gemütlichen Sessel im Wohnzimmer und gespannt darauf wartest, wie ich dir das Abenteuer deines Lebens erzähle.

Beinahe kann ich dein Gewicht in meinen Armen wieder spüren. Du bist nicht schwer, kurz vor deinem Lebensende wiegst du nur 19 Kilo mit deinen 13 Jahren, aber deine Gliedmaßen sind so dünn und fast sperrig – schimpf nicht über dieses Wort, Josh – dass ich deine Knochen spitz und manchmal schmerzhaft auf meinen Oberschenkeln spüre. Am größten ist dabei dennoch nicht mein körperlicher Schmerz. Kleines Häufchen Äste, nannte ich dich manchmal liebevoll und wir lachten dann gemeinsam über deine Arme und Beine, die sich weit von dir streckten und deinem Willen nicht gehorchen wollten.
Ich beuge deine Arme vorsichtig und lege sie dann seitlich neben deinem Körper ab. Vermutlich wirst du mir im Laufe der Erzählung deinen rechten Ellenbogen in mein Zwerchfell drücken, immer dann wenn es besonders aufregend, spannend oder lustig wird. Deine Beine kann ich mit gutem Zureden nebeneinander ablegen, immer knoten sie sich zuerst verkrampft übereinander. Dann streichele ich noch deine Füße, mit dem blöden Babinski-Zeh, was für einen Namen sich die Medizin da ausgedacht hat, dein großer Zeh, der sich schmerzhaft nach oben reckt und über den zweiten Zeh legt, einfach seine ihm zugewiesene Stelle nicht mehr weiter einnehmen mag. So schaffen wir es, dass deine Beine endlich weich über meine Oberschenkel nach unten hängen. Dein Kopf liegt entspannt in meiner linken Armbeuge, deine Haare, sie sind lang, wie es sich für einen echten Indianerjungen gehört, streiche ich zärtlich aus deinem Nacken und lege sie über meinen Arm, damit sie dich nicht ziepen.
Während wir zwei uns zwischen den Welten aneinander lehnen, und ich flüsternd beginne, werden meine Worte durch Zeit und Raum getragen, wird wieder lebendig, was war und immer sein wird, und finden meine Worte vielleicht die Herzen all jener Menschen, die um die Liebe wissen.
Zu einer guten Geschichte gehört gute Schokolade. Mit einem Schmatzen erinnerst du mich daran, dir eines der winzigen Stücke Lindor, die ich zuvor mit meinen Fingern gebrochen habe, in deinen Mund zu stecken, damit du sie genüsslich auf deiner Zunge schmelzen lassen kannst.

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